Predigt zum 20. Sonntag nach Trinitatis am 13.10.2024

gehalten von Eike Claas Hoberg

 

Predigttext: 2. Kor 3,3-6 (nach der Basis Bibel)

 

3 Ja, es ist offensichtlich: Ihr seid ein Empfehlungsschreiben, das von Christus kommt. Zustande gekommen ist es durch unseren Dienst. Es wurde nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes. Es steht auch nicht auf Steintafeln, sondern in den Herzen der Menschen.
4 Diese Zuversicht haben wir durch Christus. Sie gilt auch gegenüber Gott.
5 Von uns aus sind wir dazu gar nicht fähig. Wir können uns nicht etwas zuschreiben, als hätten wir es aus eigener Kraft erreicht. Sondern es ist Gott, der uns dazu befähigt hat.
6 Er hat uns die Fähigkeit verliehen, Diener des neuen Bundes zu sein. Und die Grundlage dieses Bundes sind nicht Buchstaben, sondern der Heilige Geist. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Liebe Gemeinde,
manchmal sind es die kleinen Dinge, die mich am tiefsten berühren. Eine alte Postkarte von einem lieben Menschen, ein verblasstes Foto aus Kindertagen oder eine Zeile, die ich früher in ein Buch gekritzelt habe. Solche Dinge haben eine
Bedeutung, die über das Materielle hinausgeht. Sie tragen eine Geschichte in sich, manchmal eine ganze Welt.

Im heutigen Predigttext spricht Paulus über eine besondere Art von Empfehlungsschreiben oder auch einen Brief. Er spricht von mir, von uns – als einem „Brief Christi“. Dieser Brief ist nicht mit Tinte geschrieben, sondern „mit dem Geist des lebendigen Gottes“. Er ist nicht auf Papier, sondern in mein Herz geschrieben. Und er ist nicht für die Schublade, sondern für die Welt gedacht. Lasst uns gemeinsam tiefer in diesen Gedanken eintauchen.

Stell dir vor, du bist ein Brief. Was würde auf dir stehen? Würde man an deinen Worten erkennen, zu wem du gehörst? Paulus erinnert mich daran, dass mein Leben wie ein offener Brief für andere ist. Die Menschen um mich herum lesen nicht unbedingt
Theologie-Bücher – sie lesen mich. Sie lesen mein Handeln, meine Worte, meine Reaktionen. Und durch mich sollen sie Christus erkennen. Das ist einerseits eine gewaltige Verantwortung, andererseits aber auch ein wunderbares Geschenk.

In der Welt, in der Paulus lebte, wurden Briefe oft von einem Boten überbracht. Der Bote selbst stand nicht im Mittelpunkt; er war nicht die Nachricht. Aber er trug sie mit sich und sorgte dafür, dass sie ankommt. So bin auch ich. Ich bin nicht die Botschaft, aber ich trage die Botschaft. Und das nicht mit Worten, die in Stein gemeißelt sind, wie einst das Gesetz Moses, sondern mit einem lebendigen Geist, der in meinem Herzen wirkt. Es geht also nicht um Buchstaben, sondern um Leben. Um Geist. Um die Kraft Gottes, die in mir wirkt und durch mich sichtbar wird.

Paulus schreibt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“. Was könnte das bedeuten? Vielleicht habe ich das schon erlebt: Ich kann alles richtig machen, jedes Gebot befolgen, jede Regel einhalten – und doch kann das Herz leer bleiben.
Manchmal kann sogar das Gefühl entstehen, dass das Einhalten von Regeln wie eine Last auf mir liegt. Ich verliere den Blick dafür, warum ich es tue. Der Buchstabe wird dann zu einem starren Gerüst, das mich einengt. Aber genau hier setzt der Geist an.
Er gibt mir Freiheit.

Diese Freiheit bedeutet nicht, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Es bedeutet, dass das Leben, das Gott mir schenkt, mich von innen heraus verändert. Es geht nicht mehr darum, das Gesetz zu erfüllen, um gut dazustehen oder Angst vor Strafe zu
haben. Es geht darum, dass der Geist mich leitet, dass er mich zu einem Menschen macht, der aus Liebe handelt. Wenn ich mich von diesem Geist tragen lasse, werde ich lebendig.

Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die nicht in der Bibel steht, aber vielleicht das beschreibt, was Paulus meint und was es auch heute noch in manchen christlichen Kreisen gibt.

Stellen wir uns einen jungen Mann vor, der in einer strengen Familie aufwuchs. In seiner Kindheit lernte er, dass es viele Regeln gibt, die man befolgen muss, um ein guter Mensch zu sein. Es gab Regeln für den Tag, Regeln für die Nacht, Regeln für den Sabbat und Regeln für den Alltag. Er versuchte, alles richtig zu machen. Doch jeälter er wurde, desto mehr fühlte er sich erdrückt von diesen Regeln. Es war, als würde sein Leben immer enger und enger werden, als würde die Luft zum Atmen fehlen.

Eines Tages traf er auf einen alten Mann, der einen ruhigen und tiefen Frieden ausstrahlte. „Warum bist du so frei?“, fragte der junge Mann. Der Alte lächelte und antwortete: „Weil ich das Leben gefunden habe. Ich lebe nicht mehr nach toten
Buchstaben, sondern aus dem Geist der Liebe.“

Der junge Mann verstand nicht sofort, was der Alte meinte. Doch in den nächsten Tagen beobachtete er ihn. Er sah, wie der Alte mit Menschen sprach, wie er half, ohne dass es ihm jemand befohlen hatte. Er sah, wie der Alte sich freute über die kleinen
Dinge des Lebens, wie er in allem das Gute suchte. Nach und nach begann der junge Mann zu verstehen: Es ging nicht darum, die Regeln zu brechen, sondern darum, aus einem anderen Antrieb heraus zu handeln. Aus Liebe.

Der junge Mann erkannte, dass die Regeln zwar gut und nützlich waren, aber dass sie nur eine äußere Form darstellen. Erst durch den Geist der Liebe, der in ihm wohnte, konnte er diese Form mit Leben füllen.

Das Gesetz ist nicht schlecht. Im Gegenteil, es ist wie ein Kompass, der mir Orientierung gibt, wenn der Weg vor mir dunkel ist. Es zeigt mir, wie ich leben soll, wo die Grenzen verlaufen, die ich nicht überschreiten darf, damit ich mich selbst und
andere nicht verletze. Das Gesetz schenkt mir Struktur und Halt in einer Welt, die oft chaotisch und verwirrend ist. Ohne diese Leitplanken könnte ich leicht vom Weg abkommen oder mich verlieren in den stürmischen Wogen des Lebens.

Das Gesetz fordert Gerechtigkeit, Respekt, Achtung voreinander. Es mahnt mich, auf meine Worte und Taten zu achten, damit ich nicht in blinder Selbstsucht handle. Es ist wie ein alter Freund, der mir in schwierigen Zeiten die Richtung weist. Doch wenn
ich das Gesetz nur als eine Liste von Pflichten betrachte, bleibt es starr, kalt, fast leblos. Es ist wie eine Melodie, die ohne Instrument erklingt – ich höre die Noten, aber sie berühren mich nicht.

Aber dann kommt der Geist Gottes. Wie ein frischer Wind, der die erstarrten Blätter zum Tanzen bringt, haucht der Geist Leben in das Gesetz. Er erfüllt die Buchstaben mit einem warmen, lebendigen Puls. Durch den Geist Gottes wird das Gesetz nicht
mehr nur eine Regel, die ich befolge, um Fehler zu vermeiden. Es wird eine Einladung, über den reinen Gehorsam hinauszugehen – eine Einladung, aus Liebe zu handeln.

Denn der Geist Gottes befreit mich, er durchdringt mich bis in die tiefsten Schichten meines Herzens. Plötzlich handle ich nicht mehr, weil ich muss, sondern weil ich will. Ich frage mich nicht länger: „Was ist das Minimum, das ich tun muss?“, sondern: „Was
kann ich aus Liebe tun?“ Liebe verwandelt mich, sie durchbricht die harten, scharfen Kanten des Gesetzes und macht sie weich, fließend, lebendig. Liebe bringt Farbe in das Bild, das vorher nur aus Schwarz und Weiß bestand.

Liebe bedeutet aber nicht nur ein warmes Gefühl im Herzen, sondern ein Handeln – ein Handeln, das andere Menschen in den Mittelpunkt stellt. Nächstenliebe, das ist das Schlüsselwort. Nächstenliebe heißt, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen,
sich nicht nur um sich selbst zu drehen, sondern die Not und das Glück des anderen wahrzunehmen. Es ist, als ob ein helles Licht auf den Menschen neben mir fällt, das ihn in einem neuen, klaren Licht zeigt. Der Nachbar, die Kollegin, der Fremde auf der Straße – sie alle werden zu Menschen, die meine Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchen.

Nächstenliebe fordert mich heraus. Sie verlangt nicht nur, dass ich die Hände falte, sondern dass ich die Hände ausstrecke. Sie ist das Herz des Gesetzes, der Grundton, der in allen Geboten mitschwingt. Wenn ich die Gebote mit dem Geist der Nächstenliebe erfülle, dann höre ich auf, sie als Bürde zu empfinden. Stattdessen werden sie zu einer Quelle der Freude. Ich merke, dass jedes Lächeln, jede helfende Hand, jedes offene Ohr, das ich einem anderen schenke, nicht nur dem anderen,
sondern auch mir selbst Leben schenkt.

Wenn ich aus Liebe handle, dann geht es nicht mehr um das, was ich tun muss, sondern darum, wie ich jemanden beschenken kann. Vielleicht mit einem aufmunternden Wort an einem schlechten Tag, mit einem stillen Zuhören, wenn jemand von Sorgen spricht, oder mit einer helfenden Geste, die zeigt: „Du bist nicht allein.“ Das ist das Wunder des Geistes, der das Gesetz lebendig macht. Nächstenliebe ist der Motor, der mich antreibt, nicht nur das Richtige zu tun, sondern das Gute, das Heilende, das Verbindende.

So erfüllt sich das Gesetz – in der Liebe zu Gott und in der Liebe zu meinem Nächsten. Es ist wie ein Baum, der seine Wurzeln tief in der Erde hat, genährt vom Gesetz, aber der seine Zweige weit ausstreckt in die Welt, um Frucht zu bringen. Und diese Frucht
ist die Liebe – eine Liebe, die nicht nur Wort ist, sondern Tat, Leben und Licht für andere.

Es (das Gesetz) ist wie mit einem Instrument. Ein Klavier ohne Musik ist nur ein Möbelstück. Es erfüllt seinen Zweck erst, wenn die Tasten berührt werden, wenn der Klang den Raum erfüllt. So ist es auch mit mir. Ich bin nicht geschaffen, um starr Regeln zu befolgen, sondern um zu lieben, zu handeln, zu leben – in der Freiheit des Geistes. „Der Geist macht lebendig.“ Das ist die Botschaft, die ich als Brief Christi in die Welt tragen kann.

Paulus schenkt uns ein kraftvolles und motivierendes Bild: Ich bin ein Brief Christi. Jeder von uns ist ein lebendiger Brief, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist Gottes. Paulus macht deutlich, dass ich nicht einfach passiv glauben soll,
sondern aktiv mein Leben als Zeugnis für Christus gestalte. Ich trage eine Botschaft in mir, die durch meine Worte, Taten und Haltung sichtbar wird. Was bedeutet das, ein Brief Christi zu sein? Es bedeutet, dass mein Leben eine Botschaft ist, die gelesen
werden kann – von jedem, der mir begegnet. Ein solcher Brief wird nicht auf Papier festgehalten, sondern zeigt sich in meiner täglichen Ausstrahlung.

Wenn Paulus schreibt, dass ich ein Brief Christi bin, dann erinnert er mich daran, dass mein Glaube sichtbar und erfahrbar wird. Ich darf buchstäblich zu einem offenen Brief Jesus Christi werden, um als lebendige Botschaft in die Welt zu wirken – für alle, die bereit sind, diese besondere „Post“ zu empfangen. Mein Handeln, meine Worte, mein Miteinander – all das ist Teil dieser Botschaft. Ich habe die Gelegenheit, durch die Kraft des Geistes die Welt um mich herum zu verändern und sie mit Gottes Liebe zu berühren. Das ist die Einladung, die Paulus mir gibt: Sei du selbst ein Brief Christi, in dem der Geist Gottes lebendig wird.
Amen.